1. Herr Sylla, bitte erzählen Sie uns zunächst etwas zu Ihrer Person (Familie, Beruf, etc.).
Ich bin 63 Jahre alt, verheiratet, habe 3 erwachsene Kinder (2 Töchter, einen Sohn) und 3 Enkelkinder. Ich war viele Jahre Deutschlehrer an der Universität in Koudougou bzw. seit 2000 als Fachberater in der Lehrerausbildung an der ENS (Ecole Normale Supérieure) tätig. Seit Februar 2023 bin ich in Rente und kann mich dadurch noch intensiver um das Kinderpatenschaftsprojekt in Koudougou kümmern.
2. Woher können Sie so gut Deutsch sprechen?
Ich lernte bereits in der Schule als 2. Fremdsprache neben Englisch auch Deutsch. Nach dem Abitur habe ich Deutsch studiert. Über das Goethe-Institut absolvierte ich seit 1988 mehrere Praktika in Bremen, Bonn und München. Im Anschluss an diese folgten mehrwöchige Familienaufenthalte, u. a. in Kaufungen.
3. Wie sind Sie zu diesem Posten des Koordinators für die Kinderpatenschaften gekommen?
2016 gab es Probleme bei der Organisation des Patenschaftsprojekts in Koudougou, und es drohte die Einstellung der Aktivitäten. Über einen befreundeten Deutschlehrer wurde ich für den Posten des neuen Koordinators dem damaligen Bürgermeister von Koudougou vorgeschlagen. Nach anfänglichem Zögern (ich hatte auf diesem Gebiet keinerlei Erfahrung) habe ich schließlich zugesagt. Durch die große Unterstützung vom Kinderpatenschaftsteam in Melsungen konnte ich mich gut in meine Aufgaben einarbeiten, und wir haben zusammen vieles neu strukturiert und organisiert.
4. Wie ist Ihre Sicht auf die Patenschaften im Allgemeinen?
Aus meiner Sicht sind die Kinderpatenschaften für die Kinder aus bedürftigen Familien ausgesprochen wichtig, um eine Chance auf Bildung zu bekommen. Ich danke allen Pateneltern für die großartige Unterstützung ihrer Patenkinder. Die Zusammenarbeit zwischen dem Patenschaftskomitee in Koudougou und dem Kinderpatenschafts-Team in Melsungen läuft sehr gut, und der Fokus liegt für alle auf dem Wohl der Patenkinder.
5. Wie wird man eigentlich ein Patenkind?
Die Eltern bzw. Erziehungsberechtigten (z.B. Onkel, Großmutter etc.) der in Frage kommenden Kinder müssen einen Antrag im Rathaus abgeben. Dort hängt eine Information vom „Service Social“ aus, wie man sich für eine Patenschaftsvermittlung bewerben kann. Es funktioniert auch über Mund-zu-Mund-Propaganda.
6. Nach welchen Kriterien werden die Patenkinder ausgewählt?
Die Kinder müssen aus bedürftigen Familien stammen (evtl. Halbwaisen oder Waisen), sie sind bereits in der Schule und haben einen bestimmten Notendurchschnitt vorzuweisen.
Unser Mitarbeiter Emile Nikiema (er fotografiert die Patenkinder jeweils bei den Auszahlungsterminen) arbeitet im „Service Social“ und hilft bei der Auswahl der Kinder.
7. Können Sie uns schildern, wie die Auszahlung normalerweise abläuft?
Es gibt mehrere Schritte:
Nach der Abstimmung mit dem Team in Melsungen werden zunächst die betroffenen Familien durch einen Aushang im Rathaus, sowie über Radiomeldungen in allen gängigen regionalen Sprachen über den Auszahlungstermin informiert. Am Termin selbst werden von den Patenkindern das Sparbuch, die Zeugnisse, Ausbildungsnachweise etc. eingesammelt. Es werden Gespräche mit den Kindern und begleitenden Erziehungsberechtigten geführt, Informationen über den Gesundheitszustand der Patenkinder eingeholt, und Fotos für die Pateneltern angefertigt.
Bei Patenkindern, die sich in der Schule schwertun, wird mit den Eltern diskutiert, ob nicht eine Ausbildung besser wäre. Wir machen Vorschläge für alternative Bildungswege und helfen bei Bedarf bei speziellen Fragen der Kinder und Eltern.
Als nächstes erfolgt die Überweisung des Patenschaftsgeldes auf das jeweilige Konto des Patenkindes, aber nur dann, wenn die Unterlagen komplett sind.
8. Wer schreibt die Briefe der Patenkinder, wenn die Kinder die französische Sprache noch nicht ausreichend gut beherrschen, um selbst zu schreiben?
Die Kinder lernen erst mit Eintritt in die Grundschule die französische Sprache. Daher sind vor allem die jüngeren Patenkinder darauf angewiesen, dass z.B. ein Elternteil oder Verwandte – falls sie der geschriebenen französischen Sprache mächtig sind -, den Brief an die Pateneltern schreiben.
9. Oft registrieren unsere Pateneltern, dass die Patenkinder immer wieder den gleichen Text schreiben. Ist es in Burkina Faso überhaupt üblich, dass man Briefe schreibt?
In Burkina Faso ist es nicht üblich, Briefe zu schreiben. Auch dort haben mobile Telefone Einzug gehalten. Wir fordern jedoch die Patenkinder auf, einen Brief an die jeweiligen Paten zu schreiben. So lernen sie noch mehr zu schätzen, dass sie großes Glück haben, durch Paten unterstützt zu werden.
10. Wie sollen Pateneltern auf Wünsche ihrer PK in den Briefen reagieren, wenn diese zu Besuch nach Deutschland kommen wollen?
Wenn sich Patenkinder einen Besuch in Deutschland wünschen, z.B. in den Ferien oder für einen Studienaufenthalt, sollten die Paten das grundsätzlich ablehnen. Den jungen Menschen ist nicht bewusst, wie teuer und kompliziert die Realisierung des Wunsches wäre. Außerdem gehört dieses Thema in unserem Projekt nicht zu den Zielen einer Patenschaft.
11. Wie kommen die Kinder / Jugendlichen normalerweise zur Schule / Ausbildung / Uni (zu Fuß, per Fahrrad …)?
Die Kinder in Koudougou gehen in der Regel zu Fuß in die Schule. Bei weiteren Entfernungen benutzen sie ein Fahrrad, falls sie eines besitzen. Vereinzelte ältere Patenkinder fahren auch schon mal mit einem Mofa zur Ausbildung oder zur Universität.
12. Wie verhält es sich mit der Nachhilfe, falls sie für ein PK empfohlen wird. Wer kümmert sich um eine entsprechende Nachhilfelehrkraft?
Die Eltern müssen sich selbst um eine entsprechende Nachhilfelehrkraft kümmern. Eine Vermittlung durch das Patenschaftskomitee würde leider den Rahmen sprengen.
13. Können Sie uns das Schul- und Ausbildungssystem in Burkina Faso erläutern?
In Burkina Faso können die Kinder zwischen ihrem 3. und 6. Lebensjahr in den Kindergarten gehen. Dies ist jedoch keine Pflicht. Danach herrscht bis zum 16. Lebensjahr Schulpflicht.
Die Grundschule dauert 6 Jahre. Danach müssen die Kinder eine Prüfung bestehen (CEP = Certificat d’Etudes Primaires), um entweder eine weiterführende Schule zu besuchen oder mit einer qualifizierten Ausbildung zu beginnen. Qualifizierte Ausbildungen dauern zwischen zwei und vier Jahren.
Scheitern die Kinder am CEP, können sie eine staatlich nicht anerkannte Ausbildung machen. Diese nicht qualifizierten Ausbildungen, die nur in Sonderfällen genehmigt werden, dauern vier Jahre inklusive eines unbezahlten einjährigen Praktikums. Das bedeutet, dass es die Kinder später schwerer haben werden, eine ausreichend bezahlte Anstellung zu finden. Es bleibt dann oft nur die Möglichkeit, sich selbständig zu machen, z.B. als Schneider*in.
Nach der 10. Klasse legen die Schüler eine Prüfung zur Erlangung der Mittleren Reife (BEPC = Brevet Elémentaire Premier Cycle) ab und absolvieren ggf. nach weiteren drei Jahren am Gymnasium das Abitur (BAC = Baccalauréat).
Ein Universitätsstudium dauert üblicherweise:
3 Jahre bis zur Licence (= Bachelor)
+2 Jahre zum Master
+2 Jahre zum Doctorat
14. Können Sie uns etwas zu den Problemen an und mit staatlichen Unis sagen?
Das Studium an staatlichen Unis verzögert sich oft ohne Schuld der Studenten. Es gibt einfach viel zu viele junge Menschen, die sich nach dem bestandenen Abitur an staatlichen Unis bewerben. Die Lehrkräfte sind oft unmotiviert, da sie zu wenig Geld verdienen und viele Kollegen daher an private Unis abwandern.
An privaten Universitäten, die deutlich mehr Geld kosten als die staatlichen, gibt es in der Regel keine Verzögerungen.
Im Anschluss an das Interview mit Herrn Sylla gab es noch einige Fragen aus der Zuschauerschaft:
- Wie ist die politische Situation in Burkina Faso im Allgemeinen?
In der Vergangenheit gab es zahlreiche Regierungswechsel in Burkina Faso. Die Politiker waren nicht mehr in der Lage, das Land zu verwalten. Terroristen haben vor allem im Norden und Osten viel Unruhe und Chaos verbreitet. Dort wurden in den letzten Monaten mehr als 5.000 Schulen geschlossen! Inzwischen ist ein Viertel des Landes von Terroristen besetzt.
Heute hat das Militär die Macht im Land, und die Menschen erkennen die neue Regierung an, da die Terroristen bekämpft werden sollen. Leider lieferte Frankreich keine Waffen zur Gegenwehr. Inzwischen hat die Wiedereroberung des Landes mit russischen Waffen begonnen.
- Gibt es in Koudougou viele Flüchtlinge aus dem eigenen Land oder von extern?
Ja, vor allem im eigenen Land gibt es deutlich mehr als zwei Millionen aus dem Norden und Osten, wo die Terroristen den Menschen das normale Leben unmöglich machen.
- Wie sieht zurzeit das alltägliche Leben in Koudougou aus?
In Koudougou geht das Leben seinen normalen Gang. Man begegnet vielen Flüchtlingen, aber die Stadt hat bisher alles gut im Griff. Die Kinder können normal zur Schule gehen.
- Welche Ausbildungsberufe gibt es?
Es gibt viele Ausbildungsberufe, z.B. zur / zum
Schneider*in, Frisör*in, Elektriker*in, Mechaniker*in, Polizist*in, Koch/Köchin, IT- Spezialist*in, Erzieher*in …
- Haben Mädchen die gleichen Bildungschancen wie Jungen?
Ja, vom Grundsatz her herrscht in Burkina Faso inzwischen Gleichberechtigung.